Donnerstag, 1. Mai 2014

Politisch korrekt 8: Der Hafenkran ist an allem schuld

    Frau Bös steht am Limmatquai neben dem Hafenkran. Aus Rostock, schon ziemlich baufällig und 60'000 Franken teuer. Er ist DAS Hassobjekt der Zürcher zur Zeit, denn lange hat sich die Stadt über dieses sogenannte Kunstobjekt gestritten, jetzt wurde es unter viel Kritik doch noch aufgestellt. Der Hafenkran ist das neue Feindbild all jener, die zu wissen glauben, was schön und was hässlich ist, was Kunst und was nicht, und wie man Geld besser investieren könnte. Was auch gerade Schlimmes und Schlechtes in der Limmatstadt passiert: der Hafenkran aus Deutschland ist sicher schuld daran.
Frau Bös sieht mit einer Mischung aus Besorgnis und Häme hinauf zum Arm des grünen Ungetüms,  aber nicht, weil das rostige Ding so umstritten ist, sondern weil dort oben Frau Bitter sitzt. Diese bläst gerade eine Schwimmhilfe in der Form eines Flugzeugs auf.
    "Ok, Monika", ruft ihr Frau Bös von weit unten her zu, die Hände vor ihren Lippen zu einem Trichter geformt, "du willst das also wirklich durchziehen, ja? Findest du das nicht ein bisschen übertrieben?"
    Frau Bitter schüttelt energisch den Kopf, ihr brauner Pferdeschwanz tanzt im Wind. "Auf gar keinen Fall! Wenn man etwas verändern will, dann muss man auch mal was wagen! Ich habe beschlossen, nicht nur immer hintenrum zu motzen, wenn mich was stört, sondern ganz vorne mitzukämpfen!!" Sie pustet noch dreimal in das Ventil des Gummifliegers, schliesst es dann und klemmt sich den Flieger so gut es geht zwischen die Beine, die links und rechts vom rostigen Hafenkran-Arm baumeln. Dann klaubt sie aus ihrer Umhängetasche eine zusammengerollte Flagge mit dem Logo der JUSO.
    "Also, du bist GEGEN den Hafenkran, GEGEN die neuen Gripen-Kampfjets und FÜR den Mindestlohn?", Frau Bös verschränkt ihre Arme vor der Brust und schaut stirnrunzelnd zu ihrer Freundin hinauf.
    "Ganz genau!"
    "Für das gibt es diese Formulare, auf denen man das gewünschte Kästchen ankreuzt, und sie dann in ein Couvert steckt und in den Briefkasten wirft. Ganz einfach. Das nennt man Demokratie. Kännsch?"
    Frau Bitter rutscht langsam und vorsichtig auf dem eisernen Gestänge nach vorne, immer weiter über die Limmat. Dafür hat sie sich einen Flügel des Gummifliegers zwischen die Zähne gesteckt, die Flagge baumelt von ihrem Handgelenk, während sie sich krampfhaft am Metall zwischen ihren Beinen festklammert. "As aich nich!! Aschtingen kun och ae, aer ang usch at on ain... " Frau Bös unterbricht sie: "Ich verstehe kein Wort, Monika! Nimm den scheiss Gripen aus dem Mund!"
    Frau Bitter klemmt sich das Flugzeug unter den linken Arm. "Ich habe gesagt: Das reicht nicht! Abstimmen tun doch alle, aber man muss halt schon auch mal ein bisschen mehr Mumm und Fantasie zeigen, wenn man eine Meinung hat und diese kundgeben will! Das ist WAHRE Demokratie!" Sie versucht, die Mindestlohn-Flagge am Ende des Krans festzumachen, ohne dabei den aufblasbaren Gripen unter ihrem Arm zu verlieren. "Das kann doch wohl nicht sein: über eine halbe Million Franken für einen alten, verlotterten Hafenkran, den in Deutschland niemand mehr will und der in Zürich nichts anderes tut als das Limmatquai verschandeln! Und 10 Milliarden Franken für 22 schwedische Kampfjets, die sonst auch keiner will und mit denen wir eh immer noch keine Armee der Welt schlagen könnten! Und das Ganze sollen wir mit unseren Steuern bezahlen, ohne anständig zu verdienen?? Das finde ich eine Sauerei! Deshalb sage ich: ich scheisse auf diesen Hafenkran (sie rutscht unanständig mit ihrem Gesäss auf dem Gestänge auf und ab), ich versenke den verdammten Gripen (sie schmeisst den Gummiflieger schwungvoll hinunter ins Wasser) und bestehe auf einen Mindestlohn (sie beugt sich hinunter und lockert den Knoten an der Flagge, diese rollt sich auf und ein grosses, rotes JA ZUM MINDESTLOHN wird sichtbar)!" Allerdings verliert Frau Bitter vor lauter Rumfingern an der Flagge ihr Gleichgewicht, rudert heftig, aber vergeblich mit den Armen und kippt dann schreiend vom Hafenkran. Sie platscht mit dem Gesäss voran in die eisig kalte Limmat, und taucht ein paar Sekunden später wieder auf, eifrig nach Luft schnappend, und in Panik mit allen Vieren rudernd, der Pferdeschwanz klebt ihr über den Augen. Sie ist keine gute Schwimmerin.
    Frau Bös weiss das und rennt erschrocken zwischen die Beine des Hafenkrans, ihre Stimme ist schriller den je: "Der Gripen, Monika, der Gripen!!!" Sie zeigt aufgeregt auf den aufblasbaren Flieger, der nur ein paar Meter vor ihrer Freundin in der Limmat treibt. Frau Bitter paddelt auf ihn zu, greift ihn sich und zieht sich bäuchlings auf den Gummi-Gripen hinauf. Wie ein Frosch stemmt sie sich mit den Hinterbeinen durch die Fluten, in Richtung rettendes Limmatquai. Frau Bös folgt ihr stromabwärts bis zu einer kleinen Plattform, die über das Wasser ragt. Dort kniet sie sich hin, und reicht Frau Bitter die Hand, die sich erleichtert aufstöhnend daran festklammert.
    
    "Deine Auffassung von Demokratie ist ziemlich anstrengend und gefährlich", ächzt Frau Bös, als sie ihre Freundin mit viel Mühe an Land hievt. "Und ausserdem war deine Aktion ziemlich für die Katz. Denn wenn ich das richtig sehe, wurde dir dein geliebter Mindestlohn da oben zum Verhängnis, aber der verhasste Gripen-Jet hat dir das Leben gerettet!"
    Frau Bitter liegt erschöpft auf dem Boden, immer noch bäuchlings, patschnass und zitternd vor Kälte, mit ihrem linken Arm umklammert sie immer noch den aufblasbaren Flieger. "Der Hafenkran", stösst sie mühsam hervor, sie hat kaum mehr Kraft zu sprechen, "der Hafenkran ist an allem schuld!"

Dienstag, 15. April 2014

Alter Ego 5: Todesangst

    Frau Bitter und Frau Bös sitzen in ihrem Lieblingscafé in der Stadt Zürich. Mittlerer Preis, immer gut besucht, bester Latte Macchiato. Die beiden Freundinnen haben mal wieder ihren Lieblingsplatz am Fenster ergattert. Frau Bitter rührt gedankenverloren in ihrem Latte, von dem sie noch keinen einzigen Schluck genommen hat, und starrt mit leerem Blick auf die ersten grünen Blätter, die der Baum am Strassenrand hinter der Scheibe trägt. Der Frühling zeigt langsam sein Gesicht, die Sonne scheint, es herrschen angenehme Temperaturen. Frau Bös hätte drum eigentlich zur Abwechslung mal gute Laune. Aber es nervt sie, dass ihre Freundin so abwesend ist und sie standhaft ignoriert. Und auch das Koffein macht Frau Bös langsam hibbelig. Kein Wunder: sie nippt bereits an ihrem dritten Cappuccino, aus Langeweile. Doch irgendwann platzt ihr der Kragen.
    "Monika, dein Kaffee ist im Fall schon lange kalt!".
    "Ähää..." Frau Bitter wendet sich nicht einmal von den Blättern ab.
    "Brad Pitt sitzt am Tisch hinter dir, hast du gesehen?"
    "Hmm-mmm..."
    "Oh, er kommt zu dir her!"
    "..."
    Frau Bös pustet sich den dunklen Pony aus der Stirn (Achtung!) und stösst hörbar Luft aus der Nase aus. Sie begreift, dass sie härtere Geschütze auffahren muss, um die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers auf sich zu ziehen.
   "Ich wollte dir noch sagen, ich bin gestern von Ausserirdischen entführt worden. Die haben so seltsame Tests mit mir gemacht und mir einen Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt. Monika", Frau Bös beugt sich über den Tisch und nähert sich dem Gesicht ihrer Freundin, ihre Lippen berühren fast Frau Bitters Ohr, "ich bin schwanger mit einem Alien", flüstert sie geheimnisvoll.
    "Ja?" Frau Bitter erwacht plötzlich aus ihrer Lethargie, aber nicht wegen des Aliens, sondern weil ihr ihre Freundin kräftig in die Ohrmuschel pustet.
    "Meine Güte!!!", Frau Bös lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor ihrem Oberkörper. "Wo um Himmels Willen bist du gerade, wenn ich fragen darf?!".
    Frau Bitter streicht sich eine Strähne ihrer braunen, langen Wellen aus der Stirn und wirkt, als wäre sie gerade erst aus einem tiefen Schlaf erwacht.
    "Ach, weisst du, mir ist einfach grad bewusst geworden, dass wir alle irgendwann mal sterben müssen."
    Frau Bös zieht ihre Augenbrauen hoch. "Wie bitte?"
    "Ja. Wir alle. Wir werden nicht für ewig hier sein. Was ich heute tue, spielt vielleicht schon morgen keine Rolle mehr. Weil ich dann tot bin. Das Leben ist so...", Frau Bitter schiessen die Tränen in die Augen, "...so endlich!" Sie wendet sich ab und wühlt in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Sie findet aber keines, deshalb schneuzt sie sich in die Serviette neben ihrer Kaffeetasse.
    Frau Bös zieht spöttisch den rechten Mundwinkel nach oben und schüttelt langsam ihren Kopf. "Ach. Und das merkst du erst jetzt? Hättest du mich mal gefragt, ich hätte dir das schon lange gesagt. Gratuliere zu deiner Erkenntnis!"
    "Ich meine das ernst, Marianne!", Frau Bitter wischt sich mit einer Ecke der Serviette eine Träne aus dem Augenwinkel, verschmiert dabei aber ihren schwarzen Eyeliner. Nun sieht sie aus, als hätte sie ein riesiges Muttermal auf de linken Lid, aber Frau Bös weist sie nicht auf das Malheur hin, sondern freut sich heimlich darüber. 
    "Es ist doch so", fährt Frau Bitter fort, Augen und Nase gerötet, "irgendwie werden wir alle nur geboren, um zu sterben! Es trifft jeden von uns! Das ist unausweichlich! Und es kann völlig unerwartet geschehen. Ich meine, gestern habe ich erfahren, dass so ein Typ aus meinem Büro einfach nicht mehr aufgewacht ist am Morgen. Herzversagen. 44!"
    "Jep, das ist traurig. Aber eigentlich hat er Glück gehabt. Ich würde lieber so sterben wollen als irgendwann mit 95 sabbernd, in Windeln und dement an einer unheilbaren Krankheit dahinsiechen", Frau Bös nimmt den letzten Schluck Cappuccino und leckt sich den Milchschaum von den Lippen. 
    Frau Bitter ist empört: "Wie kannst du nur so etwas sagen! Ich meine, 44 ist doch noch viel zu jung!! Der hatte im Fall Frau und Kinder, die sind jetzt allein!"
    "Stimmt. Aber dieser Moment wäre sowieso irgendwann mal gekommen. Das geht uns allen so, dass die Leute um uns herum irgendwann mal der Reihe nach wegsterben. Ausser wir sterben zuerst."
    "Jetzt tu doch nicht so, als würde dich das absolut kalt lassen, Marianne! Stell dir vor, du müsstest heute sterben! Würdest du das nicht zutiefst bedauern?"
    Frau Bös tut so, als würde sie tatsächlich einige Sekunden lang über ihre Antwort nachdenken, und meint dann schnippisch: "Nö. Denn ich glaube kaum dass ich als Leiche noch so etwas wie Bedauern oder Reue empfinden kann. Ich glaube sogar, ich kann dann überhaupt nichts mehr empfinden. Weil, wenn man tot ist... ist man eben tot."
    "Du bist so grausam!", Frau Bitter wendet sich demonstrativ von Frau Bös ab und verbirgt ihr Gesicht in der Hand, den Ellbogen auf der Tischkante aufgestützt. Sie ist entschlossen, ihre Freundin nie wieder anzuschauen. Doch diese zeigt sich völlig unbeeindruckt von dem Versuch.
    "Du solltest dich mal schnell daran gewöhnen, liebe Monika: der Tod ist kein Wunschkonzert. Und wie du es ganz richtig sagst, er holt uns ALLE ein. Wieso sich also darüber Gedanken machen?"
    Frau Bitter schlägt die Beine übereinander und wippt nervös mit einem Fuss. Ihre rote Stiefelette quietscht bei jeder Bewegung ein bisschen. "Im Gegensatz zu dir habe ich halt Mitleid mit den Hinterbliebenen. Und auch mit den Toten selber. Ich finde, man kann auch vor seiner Zeit sterben, und das ist schrecklich!"
    "Herrgott nochmal!", Frau Bös schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass der Löffel aus ihrer Kaffeetasse springt und scheppernd auf dem Unterteller landet. "Kuck mal nach draussen!! Es ist Frühling!! Du willst also tatsächlich unbedingt JETZT mit mir über den Tod reden, während draussen alles zum Leben erwacht und spriesst und blüht??!!". Ein paar Köpfe im Café drehen sich neugierig zu den beiden Mitdreissigerinnen um, denn Frau Bös' Stimme ist wie immer, wenn sie sich aufregt, ein bisschen zu laut und schrill geworden.
    Frau Bitter reagiert gar nicht erst auf die Frage, die ihr gestrllt wurde, sondern kuckt weiter schmollend auf ihre Stiefelette.
    "Na gut, mir reicht's!", Frau Bös springt von ihrem Stuhl auf, so dass dieser beinahe umkippt. Sie greift nach ihrer Jacke über der Lehne und ihrer Handtasche unter dem Tisch. "Wenn du tatsächlich an diesem wunderschönen Tag Trübsal blasen und darüber sinnieren willst, ob der Tod jetzt wohl fies ist oder nicht, dann lass ich dich lieber alleine mit deinen philosophischen Auswüchsen! Und ich hoffe, auch DU wirst nach langem Grübeln noch zum Schluss kommen, dass der alte Sensenmann halt einfach Tatsache ist und dann kommt, wann ER Bock hat und nicht DU! Akzeptier endlich, dass es Dinge auf der Welt gibt, die Madame halt nicht selber bestimmen kann!!".
    Wütend stürmt Frau Bös aus dem Café, alle Augenpaare folgen ihr, es ist mucksmäuschenstill geworden im Raum. Frau Bitter bleibt wie eingefroren am Tisch sitzen.

    Draussen an der frischen Luft verlangsamt Frau Bös ihren Schritt und atmet tief durch. Dabei schliesst sie ihre Augen und versucht, sich zu entspannen. Nur ein paar Sekunden. Aber das durchdringende Hupen eines Autos lässt sie aufschrecken und reflexartig zur Seite springen. Nur wenige Zentimeter neben ihr kommt ein blauer VW zum Stillstand, mit quietschenden Reifen. Das Fenster auf der Fahrerseite wird heruntergekurbelt, und ein Mann mittleren Alters mit Schnauz und Brille ruft wutentbrannt: "Sag mal, spinnst du eigentlich, du blöde Kuh?? Mach doch die Augen auf!!"
    Frau Bös pumpt nach diesem Schreck das Adrenalin durch die Adern, die Entspannungsphase ist vorbei. "Kuck DU doch besser, wo du hinfährst, verdammt nochmal!!! Du hättest mich beinahe umgebracht, du ARSCHLOCH!!!!".
    Sie streckt dem Autofahrer ihren rechten Mittelfinger entgegen und marschiert schnurstracks auf die andere Strassenseite, die zahlreichen Flüche des Mannes ignorierend. 
    'Nein', denkt Frau Bös, während sie empört und schnellen Schrittes heimwärts stampft, 'nein! Dass dieser Idiot mich jetzt einfach so ins Nirvana befördert, das hätte ich nicht akzeptiert!'

Donnerstag, 7. November 2013

Politisch korrekt 7: Das Puff mit dem Puff

Frau Bitter und Frau Bös schlendern der Langstrasse im Zürcher Kreis 4 entlang. Zahlreiche Leuchtschriften versprechen den schnellen Sex, leicht bekleidete Damen stehen an den Eingängen von dubiosen Bars, und dazwischen schleichen Männer jeden Alters und  jeder sozialen Schicht möglichst unauffällig herum.
„Das ist schon schlimm“, sagt Frau Bitter, als sie gerade einen Strip-Schuppen passieren und ihr Blick auf die Fotos der halbnackten Tänzerinnen neben der Tür fällt, „wenn man sich als Frau so verkaufen muss. Ich könnte das nie!“
„Oh, doch“, Frau Bös grinst ihre Freundin hämisch an, „glaub mir: wenn du keine andere berufliche Möglichkeit hättest, würdest du das auch machen. Ausserdem finde ich das gar nicht die schlimmste Art, sein Geld zu verdienen. Mich würde es viel mehr ankotzen, wenn ich die Villa von irgend so einem reichen Sack putzen oder an der Kasse eines Billig-Discounters sitzen müsste!“
Frau Bitters blaue Augen blicken ungläubig. „Spinnst du? Du würdest lieber nackt an einer Stange tanzen und dich von besoffenen Unbekannten begrabschen lassen?“
„Nein. Das ist mir zu doof. Ich würde dann schon das volle Programm bieten.“
Frau Bitter runzelt die Stirn und streicht sich eine braune Strähne aus dem Gesicht.
„Na, Sex natürlich!“, Frau Bös bleibt stehen und zeigt auf ein Fenster am Gebäude auf der anderen Strassenseite. „Weil, da bist du wenigstens nicht so ausgestellt. Du verziehst dich mit dem Typen einfach auf ein Zimmer, versuchst, selber ein bisschen Spass zu haben und kassierst dann ab – aber richtig. ICH wär teuer!“ Sie pustet sich ihren dunklen Pony aus der Stirn und schaut ihre Freundin herausfordernd an. Ein paar Männer haben sich zu den beiden Frauen umgedreht, weil Frau Bös’ Stimme natürlich wieder einmal ein wenig zu laut gewesen war. Frau Bitter fühlt sich unwohl, und setzt sich wieder in Bewegung, diesmal ist ihr Gang schneller als zuvor.
„Das kann ich nicht glauben, Marianne“, sie zieht sich die Kapuze ihres Parkas über den Kopf, um sich ein bisschen unsichtbarer zu fühlen. „Du würdest wirklich so mir nichts, dir nichts deinen Körper verkaufen? Das ist doch entwürdigend, eklig ist das!“
„Wieso eklig?“, Frau Bös packt ihre Freundin an der Schulter und zwingt sie so, etwas langsamer zu gehen, „hattest du etwa noch nie Sex?“
„Doch! Aber nicht für Geld! Und mit Männern, die ich mir selbst ausgesucht habe und die mir etwas bedeuten!“
Ein heiseres Lachen kommt aus Frau Bös’ Kehle, und erneut drehen sich Leute auf der Strasse nach ihr um. „Monika, bitte, jetzt tu nicht so romantisch! Sex ist einfach nur ein körperlicher Akt, der die Lust befriedigen soll. Nichts weiter!“
„Aber Sex ist kein Geschäft!“
„Doch, seit tausenden von Jahren, meine Liebe, seit tausenden von Jahren. Und warum soll man daraus nicht Profit schlagen, wenn man kann?“
Die beiden Mittdreissigerinnen kommen an einem Sex-Shop vorbei. Im Schaufenster sind Pornofilme mit klingenden Titeln ausgestellt.
Frau Bitter muss schlucken. „Wusstest du, dass in der Schweiz bereits 16-jährige in sogenannten Etablissements arbeiten dürfen? Sie können sich also quasi legal in den Schulferien ein Taschengeld als Prostituierte verdienen!“
„Ja, und? Ich finde das in Ordnung, wenn sie das wollen. Mit 16 bist du alt genug, um Entscheidungen zu treffen, in diesem Alter musst du dich ja eh für eine Ausbildung entscheiden. Und Nutte ist ein Beruf wie Coiffeuse oder Informatikerin – solange keine Frau zu diesem Beruf gezwungen wird, ist das doch völlig ok.“
„Und all die Frauen aus Ungarn oder der Ukraine, die von Schleppern gezwungen werden, hier in Zürich anzuschaffen?“
Frau Bös zuckt mit den Schultern. „Das ist eine Sauerei und Sache der Justiz. Ich sage ja: wenn Frauen zu irgendwas gezwungen werden, geht das gar nicht! Aber wenn sich jemand freiwillig dafür entscheidet, mit Sex sein Geld zu verdienen, dann geht das die anderen nichts an. Es ist nicht verwerflich, es hat nichts mit Moral zu tun, es ist keine Schande – es ist einfach ein Job!“
Am Helvetiaplatz verabschieden sich die beiden Frauen, denn sie müssen beide in unterschiedliche Richtungen. Frau Bitter steigt ins Tram, Frau Bös durchquert weiter das Rotlicht-Viertel.
Plötzlich tritt ihr ein älterer Herr mit Bierbauch, randloser Brille und schütterem Haar auf dem Trottoir entgegen. „Hey! Wieviel?“, zischt er ihr zu.
Frau Bös bleibt ruckartig stehen und blitzt den Mann mit ihren schwarzen Augen an. „Was fällt dir eigentlich ein, du verdammter Lustmolch!!!!“, schreit sie los, das Gesicht puterrot, „sehe ich etwa aus wie eine scheiss Hure??!!! Sehe ich aus, als würde ich es freiwillig mit dir treiben wollen???!!!! Willst du etwa behaupten, dass ich hier billig rumlaufe und meine Titten raushängen lasse??!!“, sie klopft sich mit beiden Händen auf die Brust. Dem älteren Herrn ist die Sache sichtlich peinlich, er spürt die Blicke der anderen Passanten auf sich und geht schnellen Schrittes wortlos davon.

„Quatsch mich ja NIE MEHR an!!!“, schreit ihm Frau Bös völlig ausser sich hinterher, „und geh gefälligst in ein Puff, aber sicher nicht zu einer anständigen Frau wie mir!!! DU SAUHUND!!!!!!!!!“

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Sozial verträglich 9: Fishing for compliments


Frau Bitter und Frau Bös sitzen im Wohnzimmer von Frau Bös’ Wohnung in der Stadt Zürich. 2,5 Zimmer, Trend-Quartier, gerade noch bezahlbar. Die beiden Frauen sitzen dicht gedrängt auf dem Sofa, Frau Bös hat ihren Laptop auf den Knien.
„Ich weiss nicht, was ich falsch mache, Monika! Aber ich werde tagtäglich überschwemmt mit diesem Mist! Kuck dir das an!“, Frau Bös klickt auf den Spam-Ordner in ihrem Mail-Account. Eine lange Liste von Mitteilungen mit eher dubiosen Titeln erscheint. Frau Bitter liest laut vor: „Russian dating – date hot russian women“.
Frau Bös verdreht die Augen: „Bin ich lesbisch?!“
„UGG Boots 3 days special – 80% off.“
„UGG Boots sind ugly!“
„Jill K.: Can you add me as a contact?“
„Nein!“
„Sarah G: Yay me, I joined and have a membership now!“
„Lucky you – interessiert mich das?“
„Truck driving jobs – great pay and training.“
„Ähm – danke, aber NEIN, danke?!
„HealthNut55302xx7: Miracle magic diet pill.“
„Ich bin nicht fett!!“
Frau Bitter runzelt die Stirn: „Sag mal, Marianne, was für Seiten kuckst du dir denn so an im Internet?“
„Ganz bestimmt keine mit Diätpillen, hässlichen Schuhen oder doofen Weibern! Was glaubst du denn?“, Frau Bös knufft ihre Freundin in die Seite und pustet sich ihren dunklen Pony aus der Stirn – wie immer, wenn sie sich aufregt.
„Ich mein ja nur“, Frau Bitter kuckt wieder auf den Laptop auf Frau Bös’ Schoss, „bei so viel Spam, das ist ja Wahnsinn. Zum Beispiel das: Lisa N.: I found your profile on facebook. I think you’re hot!“
„Oh, ich bin gerührt. I think you’re NOT!“, Frau Bös tippt mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. „Und ich bin gar nicht auf Facebook!“
„Christina R.: I think we live pretty close together.“
„Na, das hoffe ich aber nicht!“
„Laura S.: Your profile says, you like hot wax.“
„Dein Profil sagt mir, du willst ein paar in die Fresse!“
„Help for depression.“
„Ja, das brauche ich tatsächlich bald, wenn das so weitergeht!“
„Monica: My husband is out of town – view my pics!“
„Soll ich kotzen?! Und ich bin übrigens immer noch nicht lesbisch!“
„Megan B.: I wasn’t ignoring you.“
„Aber ich dich!“
„Recent wall activity – view profile now!“
„Was denn für eine Wand?“, Frau Bös runzelt die Stirn.
„Nein“, Frau Bitter muss ein bisschen lachen, „eine Wall hat man bei Facebook. Aber dort bist du ja nicht.“
„Na, eben!
„Cougar dating – rich women seeking love.“
„Oh, mann, echt! Steht irgendwo in diesem Scheiss www geschrieben, ich stehe auf Frauen oder sei ein Mann??!!“ Frau Bös klappt schwungvoll ihren Laptop zu und wirft ihn auf den Couchtisch vor sich. Ihre Freundin macht es sich auf dem Sofa wieder ein bisschen bequemer. „Du musst da wirklich was dagegen unternehmen, das nervt ja total“, meint sie mit ernstem Blick, „lade dir doch ein gutes Anti-Virus-Programm runter.“
„Hab ich doch schon längst! Bringt aber offensichtlich nichts!“
„Ich weiss nicht“, Frau Bitter streicht sich ihre braunen Wellen hinter die Ohren, „meins funktioniert wunderbar. Ich habe jedenfalls keine so komischen Mails.“
„Echt nicht?“, Frau Bös’ Augen verengen sich zu misstrauischen Schlitzen, während Frau Bitter ihren Kopf schüttelt und die Lippen schürzt.
„Nee, wirklich nicht. Und ich erledige ja sonst echt alles im Netz, ich hinterlasse also sicher meine Spuren. Aber ich kriege nur ernst gemeinte, wichtige Mails. Von meiner Bank, beispielsweise. Hat mich grad gestern darauf hingewiesen, dass ich die 100'000. E-Banking-Kundin bei ihnen sei! Jetzt wollen sie mir ein Sparkonto mit 5000 Franken drauf schenken! Ich musste ihnen nur die Kopie meines Passes zusenden und meine Bank-Daten per Formular bestätigen! Cool, nicht??“

Frau Bös öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Aber die strahlende Freude im Gesicht ihrer Freundin lässt sie verstummen.
Und irgendwie findet sie ihre Spamflut plötzlich gar nicht mehr so schlimm.


Sonntag, 13. Oktober 2013

Sozial verträglich 8: Das bisschen Herbst!


Frau Bitter und Frau Bös sitzen in ihrem Lieblingsrestaurant in Zürich. Mittlerer Preis, grosse Portionen, währschafte Küche. Die beiden Frauen essen zu Mittag, einsam an einem Tisch draussen auf der überdachten Veranda – im Oktober. Es nieselt, die Temperaturen sind knapp noch zweistellig und ein grauer Nebel liegt über allem. Frau Bitter hat ihre Lederjacke und den Schal gar nicht erst ausgezogen. Sie rührt ziemlich lustlos in ihrer heissen Kürbissuppe, während Frau Bös ihr demonstrativ in einem dünnen Sweat-Shirt gegenübersitzt und sich einen grossen gemischten Salat reinschaufelt.
„Marianne“, Frau Bitter lockert etwas ihren Schal, damit er ihren Mund nicht mehr verdeckt, „können wir nicht doch lieber reingehen? Mir ist wirklich kalt.“
Frau Bös kuckt gar nicht erst auf von ihrem Teller, sondern macht nur mit der linken Hand eine Stop-Bewegung wie ein Verkehrspolizist an einer Kreuzung, während sie mit der Gabel in der rechten Hand ein paar Maiskörner auflädt. „Müssen wir das wirklich noch einmal diskutieren, Monika? Jetzt stell dich nicht so an!“
„Aber es ist tiefer Herbst...“
„Es ist sehr später Spätsommer!!“, Frau Bös lässt die Gabel in ihren Teller scheppern und schaut ihre Freundin wütend an. „Und ich weigere mich, im Spätsommer drinnen zu sitzen!“
Frau Bitter lässt von ihrer Suppe ab und verschränkt die Arme, in der Hoffnung, so etwas wärmer zu bekommen. Den Schal zieht sie sich wieder bis unter die Nase. „Dann zieh wenigstens eine Jacke an. Du holst dir ja sonst noch den Tod.“
„Hab keine mit.“ Frau Bös beginnt wieder zu essen.
„Vielleicht können wir fragen, ob sie so einen Wärmepilz haben. Den könnten sie dann neben uns hinstellen“.
„Ich hab warm genug.“
Frau Bitter verdreht die Augen. Ein kalter Windstoss zerzaust ihr die langen, braunen Wellen. „Dann bestell ich mir jetzt eine heisse Schokolade“, murmelt sie durch den dicken Stoff vor ihren Lippen.
„Spinnst du?? Im Sommer?!“, schmatzt Frau Bös laut, den Mund voller Salat. Ein paar Passanten, die mit Regenschirmen am Restaurant vorbeigehen, drehen neugierig ihre Köpfe.
„Es ist Herbst, Marianne, HERBST!!! Jetzt akzeptier das doch endlich!“
„Es ist Herbst, wenn ICH das sage!“, Frau Bös’ Augen blitzen wieder, und sie bläst sich kauend den dunklen Pony aus der Stirn, wie sie es immer tut, wenn sie sehr erregt ist. Ihre Freundin versucht sie zu beschwichtigen, um nicht noch mehr neugierige Blicke auf sich zu ziehen.
„Ist ja gut. Jetzt sei doch nicht so. Herbst ist doch gar nicht so schlimm. Kuck dir nur mal die Bäume an mit diesen hübschen bunten Blättern.“
„Ich seh keine Bäume vor lauter Nebel. Ich seh nur grau.“
„Es wird doch wieder Sommer, Marianne. Dauert gar nicht so lange.“
Frau Bös unterbricht ihr Kauen für einige Sekunden und blickt auf. Ihre Stirn wirft tiefe Falten. „Nein. Es liegen ja nur Herbst, Winter und Frühling dazwischen. Wie doof bist du eigentlich?“
 Wieder fegt ein eisiger Windstoss über die Veranda. Frau Bös lässt sich in ihrem dünnen Oberteil nichts anmerken, aber Frau Bitter vergräbt ihr Gesicht noch tiefer im Schal. „Du kannst die Jahreszeiten nicht ändern.“
„Will ich ja auch gar nicht. Wie du siehst, sitz ich auch bei Regen und Wind draussen. Kein Problem.“
„Jetzt sei doch nicht so miesepetrig!“, Frau Bitter beugt sich über den Tisch und schaut ihrem Gegenüber eindringlich in die Augen. “Freu dich doch auf nächstes Jahr, wenn es wieder Sommer wird und wir wieder jeden Abend am See sitzen können mit einem Bier in der Hand. Da ist das bisschen Herbst jetzt doch ein Klacks dagegen!“
Frau Bös hat ihren Salat aufgegessen. Sie legt die Gabel neben den Teller und wischt sich mit der Serviette die Saucenreste von den Mundwinkeln. Als sie den letzten Bissen runtergeschluckt hat, lehnt sie sich zurück und verschränkt die Arme.
„Jetzt begreif es endlich: ich hasse Herbst. Ich hasse eigentlich alles, was nicht Sommer ist. Also, hör endlich auf, mich wie ein Kind zu behandeln!“, sie äfft ihre Freundin mit einer albernen Stimme nach: „Zieh dich warm an, Schatz! Und trink jetzt deine heisse Milch, sonst erkältest du dich noch! Nächstes Jahr gibt’s dann wieder Glacé in der Badi! Ehrlich, du bist so albern, Monika! Ein bisschen Oktober, und du machst schon schlapp!“
Frau Bitter seufzt laut, rutscht etwas tiefer in ihren Stuhl und vergräbt fast ihr ganzes Gesicht im Schal. Ihr ist einmal mehr klar geworden, dass Frau Bös ihre Argumente nicht akzeptieren wird.

Dafür akzeptiert sie dann den Blumenstrauss, den Frau Bitter ihr eine Woche später ins Spital mitbringt. Frau Bös liegt dort mit einer Lungenentzündung im Bett, das weisse Laken bis über die Nase hochgezogen.